Die generative Stadt. Ein neuer Umgang mit dem Nationalsozialismus für die Erinnerungskultur.

Straßen, Plätze und Gebäude in einer virtuellen Stadt, die ihre Position und Aussehen bei jedem neuen Durchlauf verändern, sind Strukturen, die eine generative Stadt ausmachen. Diese Eigenschaften sind vorher nicht festgelegt, sie werden in jeder Version durch einen Algorithmus neu erschaffen. Dadurch entsteht immer wieder ein komplett anderes Modell.

Unter anderem wird diese Methode im Game Development angewendet, um vollkommen neue Spielwelten entstehen zu lassen. Bei jedem Spieldurchlauf agieren die Spielenden in einem „zufällig“ erschaffenen Raum. Mithilfe von KI ist es nicht nur möglich die Umgebung generativ zu modellieren, sondern auch das Storytelling prozedural zu gestalten. So bilden sich immer veränderte Handlungsstränge in Abhängigkeit zum Kontext heraus.

In Peloton erleben die Spielenden in einer fiktiven Kleinstadt in den Jahren von 1930 bis 45 ein Fahrradrennen. Um eine authentische Gestaltung zu erzielen, sind die signifikanten urbanen Orte im Stadtbild erfasst. Der generative Aufbau des Spiels lässt eine generische Welt entstehen, die den Eindruck einer typischen Kleinstadt in Deutschland vermittelt. Diese Form der Umsetzung erlaubt das didaktische Konzept auf innovative Weise mit Technologien zu verknüpfen. Es wird verdeutlicht, dass Radikalisierung nicht an eine konkrete Umgebung gebunden ist, sondern überall auftreten kann.

Visuelle Gestaltung der generischen Stadt

Die generative Stadt ist jedes Mal anders aufgebaut und sieht dennoch immer ähnlich aus, da ihre Gestaltung auf den stets gleichen Regeln basiert. Kontinuierlich wird durch KI eine vollständige neue Welt mit individuellem und gleichzeitig charakteristischem Aussehen entwickelt. Wir nutzen hierfür Quellen, wie historische Stadtpläne aus der Zeit des Nationalsozialismus, um das Leben in einer Stadt zu analysieren. Daraus sind Muster ableitbar, die die einzelnen Strukturen wiedergeben und ein authentisches Abbild realisieren.

Narrative Stränge

Zusätzlich ist der narrative Strang generativ entwickelt, wodurch bei jedem Spielbeginn ein veränderter Plot entsteht. Neben den aktiven Interaktionen der Spielenden wird ihnen ein variationsreiches Spielerlebnis geboten. Sie gelangen so an noch unbekannte Orte, müssen neue Aufgaben lösen und andere Entscheidungen treffen, die an den jeweiligen Stellen des Erzählstrangs unter Umständen auch gegensätzlich ausfallen. Dadurch werden die Konsequenzen für das eigene Handeln auf unterschiedliche Art und Weise erfahrbar.

Historische Prozesse und Gamedesign

Diese beiden generativen Prozesse werden bei Peloton eingesetzt, um die einzelnen Modifikationen der Kleinstadt zu erhalten. So entsteht ein fiktives Setting inklusive Handlung an immer wieder unterschiedlichen Orten. Um dies darzustellen wurde für Peloton die räumliche Nutzung der Öffentlichkeit im Nationalsozialismus untersucht. Wichtig war herauszufinden, wo sich das soziale Leben in jener Zeit abspielte, an welchen Stellen einer Stadt die Bewohner miteinander interagierten und welche dieser Räume in das Spiel integriert werden können. Diese waren im Nationalsozialismus beispielsweise sehr zentrale Orte im Stadtzentrum wie der Marktplatz, in der Regel mit Rathaus und Kirche, Geschäfte, Kinos und Gaststätten. Zudem waren Sportplätze und Hinterhöfe charakteristisch für die urbane Kommunikation und sind als neuralgische Punkte in das Game Design übertragen.

Räume des Widerstands

Für eine größere Diversität an dynamischen Aspekten in lokalen Gegebenheiten wurden für Peloton darüber hinaus auch Orte des Widerstands identifiziert. Sie bringen zusätzlich auf sozialer Ebene mehr Polarisierung in das Spiel mit ein und bieten die Möglichkeit verschiedene soziale Milieus aktiv sowie passiv auftreten zu lassen. Zu den Orten des Widerstands zählen zum einen öffentliche Räume wie Gaststätten, die nur von bestimmten Gruppierungen frequentiert wurden, oder Geschäfte, in denen Widerständler während der Öffnungszeiten Informationen austauschten. Zum anderen private Umgebungen, wie Wohnungen, Büros und Ateliers, die für geheime Treffen genutzt wurden.

Feste und Ereignisse

Neben den kontinuierlichen sozialen Räumen haben wir auch temporäre Raumnutzungen in das Game Design übernommen. Die Nationalsozialisten riefen viele Feiertage ins Leben, indem sie eigene zur Verherrlichung der Opfer kreierten oder bereits bestehende Feste okkupierten. Letztere hatten meist lange Traditionen und waren zuvor schon in ländlichen Regionen verortet. Für die gesamte Bevölkerung wurden die Feiern entweder als Massenevents in den wichtigen Städten oder in kleinerer Version in Kleinstädten und Dörfern inszeniert. Visuelle Möglichkeiten in der Umsetzung sind eine Beflaggung, ein Umzug durch die Stadt, eine Ansprache und in den meisten Fällen zum Abschluss Tanz und Musik. Auf diese Weisen wurden neben den Feiertagen, wie zum Beispiel der 1. Mai oder das Erntedankfest, auch Vereins- und Sportfeste mit derselben Symbolik begangen.

Hierbei lässt sich erkennen welche Räume im Nationalsozialismus von zentraler Bedeutung waren und essentiell für die Umsetzung eines Spiels in dieser Zeit sind. Mit diesen neuralgischen Punkten lässt sich eine Diversität an Interaktionen integrieren, die die Dynamik einer Kleinstadt widerspiegelt und das damalige Leben in ihr abbildet.

Propaganda als visuelle Ästhetik

Das Aussehen einer urbanen Umgebung zu verändern kann zusätzlich darin bestehen, die Ästhetik des Stadtbildes zu variieren. Diese kleinen, sichtbaren Modifikationen sind auch generativ umzusetzen, wofür wir uns auf historische Ereignisse im Nationalsozialismus beziehen. In der Gestaltung wird eine Zunahme an nationalsozialistischen Symbolen eingesetzt und mit Schmierereien an Ladengeschäften sowie Häusern gearbeitet. Diese berichten von dem Boykott der jüdischen Geschäften 1933 oder der Reichspogromnacht 1938. Ferner verändert sich das Kleinstadt-Setting im Laufe des Spiels durch Plakate. Sie wechseln entweder nur ihren Bildinhalt oder tauchen an unterschiedlichen Orten im Spiel auf. Beispielsweise orientieren wir uns an Wahlplakaten, an der Bewerbung der Olympischen Spiele, an Kriegspropaganda oder an Plakaten des Widerstands. Die Umbenennung von wichtigen Straßen und Plätzen sind ebenfalls Mittel, um die einsetzende Veränderung der Kultur wahrzunehmen.

Das Game Design erzeugt eine Vergangenheitsatmosphäre, die den Nationalsozialismus erlebbar machen. Die Spielenden können auf visueller sowie interaktiver Ebene die damals vorherrschenden Lebensbedingungen nachempfinden. Es wird ihnen die offensichtliche politischen Haltung widergespiegelt und ebenso der auf die Bevölkerung ausgeübte Druck verdeutlicht.

Das repressive System etabliert sich zunehmend in der Ästhetik und verändert den Charakter einer Stadt. Bei Peloton wird dies in den einzelnen Spielzyklen umgesetzt. Das Fahrradrennen beginnt im Jahr 1930 und wiederholt sich jährlich. Je nach Entscheidung im Spiel kann es bis ins Jahr 1944 andauern. In den Spielzyklen sind historische Ereignisse in das Aussehen der fiktiven Kleinstadt eingebettet, um eine detailreiche Authentizität zu bieten.

Die technische Umsetzung der Ideen basiert auf Wechselwirkungen verschiedener Prozesse. Sie sind auf historischer Ebene gegeben, entstehen aus gruppendynamischen Aspekten und durch die Interaktion der Spielenden. Ein emergentes Storytelling ergänzt die Simulation, das neue Impulse beim wiederholten Spielen hervorbringt. Um die generativen Szenarien nicht nur als inhaltliches, sondern auch visuelles Erlebnis zu vervollständigen, wird die Umgebung im Spiel durch eine prozedurale Modellierung festgelegt.

Diese verschiedenen Methoden bilden den generativen Charakter des Spiels, der ein Game Design von ganz unterschiedlicher Ausprägung erstellt. Ein immer wieder neues Aussehen neben modifizierten Handlungsoptionen erzeugt einen lebendigen Eindruck. Dieser entsteht in einer komplexen Spielwelt durch Wechselwirkung mit einem dynamischen System. Eine Realisierung durch immersive VR kann nochmals intensiver auf die Spielenden einwirkt und sie in eine andere Welt eintauchen lassen.

Eine generative Gestaltung im Game Design bietet diverse Chancen für die Erinnerungskultur und für deren Umgang von Lernenden an Schulen. Die unterschiedliche Modellierung der einzelnen Spieldurchgänge in ihrem jeweiligen Design der Narration sowie Umgebung fördern eine vielfältige Herangehensweise an die Ereignisse des Nationalsozialismus. Mithilfe pädagogischer Unterstützung entstehen Ansätze, die viel Raum für Diskussionen und eine kritische Auseinandersetzung mit der damaligen Zeit bieten.

Neue Möglichkeiten im Umgang mit Geschichte ergeben sich ebenfalls auf künstlerischer Ebene, da die generative Spielwelt mehrere Abstraktionsverfahren miteinander vereint. Für den Spielenden wird aufgrund der dynamischen Aspekte visuell und inhaltlich immer wieder ein neuer Blick auf die Vergangenheit erzeugt. Das eigene Geschichtsbewusstsein erfährt dadurch multiple Darstellungsweisen des Nationalsozialismus, die in eine generische Umgebung eingebettet sind. Diese Sicht auf die fiktive Kleinstadt vermittelt thematisch, dass Radikalisierung überall stattfinden kann und das Thema nie an Aktualität verliert.

Bildquelle: Stadt Burgkunstadt, Fahnenschmuck zum 1. Mai 1937 in Burgkunstadt, Filter: lunapic.com (Floating Art Effect) CC BY-SA 3.0 DE

Quellen:

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