Wie kann man gesellschaftliche Veränderungen erlebbar machen?

Ein Sonniger Tag in der Kleinstadt, mit frisch hergerichteten Fahrrad saust man über die Pflastersteine des Marktplatzes. Hier und da sind ein paar andere Radfahrer zu sehen, die an einem Vorbei ziehen oder hinter einem bleiben. In den Fahrradläden und Bäckereien lassen die Verkäufer ihre Arbeit für einen Moment ruhen und schauen zu. In der Stadt herrscht Volksfeststimmung, alle sind versammelt. Doch nichts ist je wie es scheint. Vor dem Kirchturm am Marktplatz werden schon bald die Hakenkreuzflaggen hängen und Propagandaplakate die Straßen säumen. An manchen Tagen werden Flugblätter der Opposition vom Himmel regnen. Gesellschaftliche Gruppe werden nach und nach aus dem allgemeinen Stadtbild verschwinden.  

Doch unter welchen Bedingungen verändert sich die Gesellschaft in kürzester Zeit? 

Um Gesellschaftliche Gruppen zu beschreiben haben wir uns den Milieu Begriff näher angeschaut. Laut dem Professor für Soziologie Peter Müller, versteht man unter sozialen Milieus Gruppierungen von Menschen mit ähnlichen Werthaltungen, Mentalitäten und Lebensstilen und einer geteilten räumlich-sachlichen Umwelt (wie Stadtviertel, Region, Beruf, Bildung und Erziehung, Politik, Kultur). Bei kleineren Milieus kommt eine Art „Wir-Gefühl“ und ein erhöhter Binnenkontakt hinzu, der für sozialen Zusammenhalt sorgt. 

Beschreibung von Gesellschaftlichen Gruppen

Folgenden Milieus lassen sich in der NS-Zeit, basierend auf wissenschaftlicher Literatur, identifizieren. Die Quellen haben wir unten angefügt. 

Das „Konservative Milieu“ wird unter anderem geprägt durch Frank Bösch in seinem gleichnamigen Buch. In einem Beitrag des SWR2 Wissen referiert der Autor Rolf Cantzen über das Adelsmilieu. Peter Lösch und Franz Walter sprechen in ihrem Text „Katholiken, Konservative und Liberale“ über das katholische sowie das politische Milieu. Die Zusammenhänge zwischen dem Gewerkschafter-, Unternehmer- und Industriellem Milieu macht die Arte Dokumentation „Die Nazis, die Arbeit und das Geld“ verständlich. Über das Jüdische Leben in Zeiten der Nationalsozialismus schreiben Jörg Berkemann und Beate Meyer. Durch Thomas Fandel entsteht ein Bezug zwischen Protestanten und Nationalsozialismus. Ein weiteres Milieu ist das Arbeitermilieu nach dem Projekt „Jugend! Deutschland 1918-1945“. Dort werden die Zusammenhänge des Milieus mit anderen greifbar gemacht. 

Für das Game Design besonders interessant:
Das Jugendmilieu

Eine durchaus zentrale Rolle spielt das Jugendmilieu. Darunter fallen unter anderem die katholische Jugend, die protestantische Jugend und die Arbeiter Jugend. Die Jugend hat in dem Spiel eine ganz besondere Bedeutung, denn sie sind es die das Fahrradrennen fahren und an denen die Veränderung am deutlichsten sichtbar ist. Im Spiel werden die Spielenden zufällig einem Milieu zugeordnet. Das bedeutet das die Spieler das Milieu nicht selbst wählen, sondern zugeteilt werden. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit das man eine individuelle Spielhandlung erlebt. 

Jugendorganisationen der Nazis

„Hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder“

Die Nationalsozialisten umwarben früh Kinder mit ihren Jugendorganisationen wie der Hitlerjugend (HJ) oder dem Bund Deutscher Mädchen (BDM), aus denen später die Staatsjugend wurde. Man spricht hier von einer Militarisierung der Jugend. Der Wandel zur Staatsjugend war eine Reaktion auf das Verhalten der Jugendlichen. Die Umstände, unter denen die Jugend agieren konnten, veränderten sich und dies rief wiederum ein Verhaltensumschwung bei ihnen hervor. Die Jugend wurde von Jugend geführt. Zu einer Massenorganisation wurde die Staatsjugend nach dem 1933 die konkurrierenden Jugendverbände verboten wurden. Am 1.12.1936 trat das „Gesetz über die Hitler-Jugend“ in Kraft. Für Erziehung außerhalb von Schule und Elternhaus war nun die HJ zuständig. Mittelpunkt der Jungenderziehung war dabei die Wehrertüchtigung. Der Beitritt zur HJ, BDM etc. wurde Pflicht. Nur Kranke, Schwache und Juden wurde ausgeschlossen. Eltern, die ihre Kinder vom Eintritt abhalten wollten, bekamen Geld-, oder Gefängnisstrafen. 1939 hatte die HJ Neun Millionen Mitglieder. Die Pimpfe bzw. das deutsche Jungvolk waren zwischen 10 und 14 Jahre alt ebenso wie die Jungmädel. Die 14 bis 18-Jährigen dienten der HJ oder dem BDM. Bis 21 Jahre alt waren die Mädchen im BDM-Werk „Glaube und Schönheit“. 

Opposition

Es gab aber auch die oppositionellen Jugendlichen. Sie fielen unter anderem durch ihre Überfälle auf die Hitler-Jugend auf und waren bis zu 30 Jahre alt. Neben dem Jugendmilieu kamen sie aus dem linken, politischen Widerstand. Einige wurden auch aus dem Arbeitermilieu rekrutiert. Sie führten die verbotenen Jugendgruppen heimlich weiter. Als Opposition gründeten sich Cliquen wie die Edelweißpiraten oder die Swing-Jugend. Die Edelweißpiraten gingen aus der Bündische Jugend hervor. Die HJ übernahm gleich zu Beginn die bündischen und pfadfinderischen Traditionen. Einige Oppositionelle hofften daher die HJ übernehmen zu können und traten freiwillig bei. Kinder des Widerstands kamen meist aus politisch aktiven Familien. Sie wirkten unter anderem durch das Verteilen von Flugblättern illegal am Widerstand mit. 

Konfessionelle Jugendgruppen

Konfessionelle Jugendgruppen, wie die katholischen und evangelischen Jugendgruppen, wurden unterdrückt. Sie waren Objekt nationalsozialistischer Umerziehungsbemühungen. 

Bei den Katholiken behinderte die Hitlerjugend das religiöse Leben durch Gruppenzwang, Drohungen und Einschüchterungen. Ihre Jugendverbände wurden verboten was mit einem Rückzug ins Innen einherging. Es bildete sich eine moderne Form der Pfarrjugend und damit einer Resistenz der jugendlichen Katholiken gegenüber dem NS-Regime.

Der Parameterraum

Um die Milieus in der Gesellschaft zu verorten, haben wir einen Parameterraum entwickelt. Dazu bildeten wir ein Fünfeck aus folgenden fünf Parametern: Befürwortung, Anpassung, Hinnahme, Ablehnung und Widerstand.

Orange= Jugend, Lila= Protestanten, Rot = Adel, Goldgeld= Gewerkschaften, Dunkelgrün = Juden, Hellblau = Katholiken, Hellgelb = Arbeiter, Hellgrün = Industrielle, Dunkelblau = Unternehmer, Rosa = Konservative

Die in der Grafik farbig abgebildeten Punkte stellen die Milieus dar. Bei genauer Betrachtung fällt auf das die Mehrzahl der Milieus zwischen „Widerstand“, „Befürwortung“ und „Anpassung“ liegen. Einige der Milieus fallen dabei in mehrere Bereiche. Das für das Spiel relevante Jugendmilieu (in Orange) liegt im Spannungsfeld zwischen Befürwortung und Widerstand. Befürwortung erfahren die Nationalsozialisten durch ihre Anreizsysteme. Als Beispiel dient dabei die Versorgung der Bevölkerung, die eine breite Zustimmung sicherte. Zum Widerstand lassen sich die oppositionellen, wie die Jugendgruppe Edelweißpiraten, zuordnet. Diese gingen gegen das NS-Regime vor. Der Parameterraum unterstützt das Entwicklerteam dabei im Gamedesign die gesellschaftliche Struktur und Dynamik zu beschreiben.

Relevanz für das Spiel

In Abhängigkeit der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftlichen Gruppe erleben die Spielenden ihre eigene Geschichte. Je nach Handlung im Spiel eröffnen sich neue Handlungsoptionen. So wird die Ablehnung der Juden als Befürwortung des nationalsozialistischen Regimes bewertet. Entscheidet man sich zum Beispiel auf Bitte eines Sponsors, nicht mehr im Jüdischen Milieu einzukaufen, eröffnet sich daraus eine neue Erzählung. Die Spielenden erleben und entwickeln ihre eigenen Geschichten.

Gesellschaftliche Dynamik:
Anreize für die Bevölkerung

Der Parameterraum hilft uns dabei, eine Radikalisierung in der Gesellschaft abzubilden. Durch den systematischen Druck der Nationalsozialisten wurden immer mehr gesellschaftliche Gruppen an den Rand gedrängt oder assimiliert. Dies führt zu einer Radikalisierung der Gesellschaft, in der es schon bald nur noch Befürworter oder Gegner des Systems gab. Neben Druck und Terror etablierten die Nationalsozialisten Anreizsysteme. Diese lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Materielles, Arbeit und Heldentum. Unter Materielles fällt unter anderem der Wohnraum, den die Nationalsozialisten für die Bevölkerung bauten. Durch die Weltwirtschaftskriese waren sechs Millionen Deutsch Arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit fiel schnell unter die Marke von einer Million. Daraus resultierte eine hohe Zustimmung für das nationalsozialistische Regime. Die Nationalsozialisten nutzten und verstärkten einen Heldenethos, in dem der Junge durch den Krieg zum Mann wird.

Mucki, die Edelweißpiratin

Besonders eindrücklich sind Berichte von Zeitzeugen. Ihre Geschichten ermöglichen uns ein Gefühl für das Leben in Milieus zu bekommen. Exemplarisch werfen wir einen Blick aufGertrud Koch. Geboren am 1. Juni 1924 und gestorben am 21. Juni 2016. Ihr Vater war Kommunist und durch ihre Eltern war sie schon früh politisch engagiert. Vor der Gleichschaltung der Jugendgruppen zur Hitler-Jugend, war sie Mitglied der Roten Jungpioniere und weigerte sich dem Bund Deutscher Mädchen beizutreten. Mit ihren Freunden gründete sie stattdessen eine informelle Gruppe, die Naturfreunde, die sich zunehmend politisierte. 1940 kam sie als Mucki zu der Widerstandsgruppe der Edelweißpiraten die im Untergrund agierte. Sie gingen aktiv gegen das Nazi Regime vor, verteilten Flugblätter, schrieben Parolen an Hauswände und entwarfen Plakate. Ihre spektakulärste Aktion war der „Flugblattregen“ aus der Kuppel des Kölner Hauptbahnhofs. Für diese Aktion kam sie nach Braunweiler ins Gefängnis. Sie erlitt Folter und zwei Monate Einzelhaft. Durch ein Versehen konnte sie jedoch fliehen und floh mit ihrer Mutter aus Köln. 

Chancen für das Spiel

Betrachtet man die erarbeiteten Punkte, ergibt sich daraus das Bild einer vielschichtigen Gesellschaft in unterschiedlichen Formen und Lebenslagen. Das Spiel zeigt verstärkt die Rolle der Jugend. Sie sind die Hauptfiguren, die Rennfahrer. Die Spieler können sich mit der virtuellen Jugend Identifizieren da sie vermutlich in einer ähnlichen Altersgruppe sind. 

Im Spiel wird die Dynamik der Gesellschaft lebendig und greifbar indem der Fokus auf einzelnen Aspekten des geschichtlichen Geschehens gelegt wird. Eine Rolle spielen dabei die Anreize, die die Gesellschaft zu Befürwortern des Regimes machte. Chancen für variable Spielräume bietet dabei der Parameterraum. So können die Spieler unterschiedlichen Milieus zugeordnet werden oder durch ihr Handeln in ein anderes Milieu wechseln. Gesellschaftliche Veränderungen werden erlebbar. Für Schüler bietet das Spiel eine einzigartige Möglichkeit in die Materie ein zu tauchen. Es macht das Erleben greifbar und verständlich. 

Quellen: